Die Zerreissprobe

Liebe Sterbende, liebe Angehörige und liebe Verstorbene

Bitte beachten Sie, dass ich aufgrund der aktuellen Massnahmen im Moment nur reduziert arbeite. Grund: Es zerreisst mich!

Seit mehreren Jahren darf ich Menschen auf dem letzten Weg begleiten und mit ihnen gemeinsam das letzte Fest gestalten und feiern. Doch jetzt… jetzt zerreisst es mich.

Es zerreisst mich, wenn sich Menschen kein Lächeln mehr schenken dürfen, wenn dies dringend gebraucht würde, weil die Worte fehlen.

Es zerreisst mich, wenn Umarmungen sterben, weil Abstandsregeln befolgt werden müssen.

Es zerreisst mich, wenn kleine Berührungen und Gesten, die die Welt für einen Moment verändern könnten, ausbleiben, weil 1,5m nicht überschritten werden dürfen.

Es zerreisst mich, wenn ich vollgerotzte Masken sehe, statt liebevoll gereichte Taschentücher.

Es zerreisst mich, wenn Angehörige mit einer Maske am Sterbebett stehen müssen und dass dies von mir als Sterbebegleiterin ebenfalls verlangt wird. Wie soll ich Angst nehmen, wenn allein mein Anblick schon Angst auslöst? *

Es zerreisst mich, wenn Angehörige maskiert Abschied nehmen müssen, wenn der Tod doch endlich mal alle demaskiert hat.

Es zerreisst mich, wenn Angehörigen verweigert wird, eine letzte Blume in den Sarg legen zu dürfen, obschon niemand, nicht mal die Verstorbenen eine ansteckende Krankheit hatten. Und sind wir mal ehrlich, töter als tot geht nicht.

Es zerreisst mich, wenn mich sterbende Menschen, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollten anrufen, um mir mitzuteilen, dass ihr bereits festgelegter Termin aus hygienetechnischen nicht stattfinden darf. Hä?!**

Was mich jedoch wirklich zerreisst ist, mitansehen zu müssen wie Lebende nicht mehr wirklich am Leben sind.

Im Moment beerdigen wir vor allem Menschlichkeit, Mitgefühl und Würde, Werte für die ich als Schlusslicht und Mensch stehe.

Und bevor es mich noch ganz zerreisst, arbeite ich im Moment nur reduziert. Begleite Einzelpersonen und kleine Familien so gut es geht, schreibe möglicherweise ein neues Buch (vielleicht über Menschenwürde), geniesse meine neue Couch, knuddle meine Katze und küsse meinen Schatz, gehe ewig lang spazieren, erfreue mich an den fallenden buntgefärbten Blättern des Herbstes, dann an den ersten Schneeflocken die hoffentlich leise alles Unwürdige unter sich begraben.

Und dann? Dann zünde ich ein Licht an für die Menschheit und dass wir genauso erwachen werden wie der Frühling im kommenden Jahr.

«Sie können wohl alle Blumen abschneiden,

aber sie können den Frühling nicht verhindern»

(Pablo Neruda)

*wie immer wird es auch hier von Institution zu Institution unterschiedlich gehandhabt. Ich stehe nicht maskiert an einem Sterbebett, dass widerspricht all meinen Werten.

**so tatsächlich geschehen während des Lockdowns im Frühling.


20.11.2020

zurück

Hinterlassen Sie einen Kommentar:

2 Kommentare:

Rachel Schmid Pappa schrieb am 09.03.2021 um 16:51:

Liebe Murielle Diese, deine Worte in der aktuellen Zerreiss-Probe hab ich aufgesogen wie ein Schwamm. Sie treffen - gefühlt - den Kern unseres MenschSEINS. Ich danke dir für dein Dichzeigen, das mutige Zudirstehen und das Teilen mit uns allen. Herzlichst, Rachel

Buser Rolf schrieb am 17.03.2023 um 16:55:

Liebe Murielle Heute Morgen hatten meine Frau und ich das Vergnügen, die Trauerfeier von Fredy geniessen dürfen. Es war aussergewöhnlich, so grossartig gestaltet, dermassen treffend formuliert und liebevoll vorgetragen. Herzliche Gratulation !!!!!