Ich halte meine Seele in die Sonne

Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine Auftragsarbeit. Ein Nachruf war gewünscht, für Ruth, eine Frau die eigentlich niemand so wirklich richtig gekannt hat…

Ich halte meine Seele in die Sonne

«Was bleibt von mir hier, wenn ich gehe?» Wahrscheinlich haben wir uns alle schon einmal selbst diese Frage gestellt. «Was bleibt von mir? Hinterlasse ich Spuren? Und wenn ja welche?»

Ruth hat sich diese Fragen vielleicht auch gestellt, wir wissen es nicht. Alles was wir wissen, ist dass sie uns in ihrem Nachlass unter anderem ein Buch hinterlassen hat. Ein kleines Buch mit gerademal 131 Seiten. Kein besonders schönes Buch, ein Taschenbuch eben, eher schlicht, etwas abgewetzt, zerlesen, die einzelnen Seiten am vergilben.  Doch der Titel lässt uns aufhorchen: «Mehr Leben als du ahnst»

Also mehr als wir ahnen. Ich schlage das Buch auf und beginne zu lesen und es dauert nicht lange, da stosse ich auf ein Buchzeichen, welches zwischen zwei Seiten steckt, um auf eine ganz besondere Stelle im Buch hinzuweisen. Eine Stelle, die Ruth mit gelbem Leuchtstift markiert hat. «Ich halte meine Seele in die Sonne».Ist das ihre Botschaft an uns?Ist das ihre Art den Hiergebliebenen zu sagen wie es ihr jetzt geht? Oder ist es eine Aufforderung an uns? Sollen wir unsere Seelen in die Sonne halten?

Ich blättere um und folge den leuchtenden Spuren, die sie in diesem Buch hinterlassen hat. Wie Brotkrummen hat sie im ganzen Buch Wörter, Sätze oder gar ganze Abschnitte markiert, die mir vielleicht den Weg weisen können. Doch wohin? Zu ihr oder zu mir?

Ich fasse den Entschluss, mir alle leuchtenden Worte rauszuschreiben und kürze somit das Buch auf 7 Seiten. Einfach nur 7 Seiten eines Buches und doch so viel mehr. Da stehen Sätze wie: «Die Seele muss nachkommen, muss wieder zu sich selbst finden» oder «Wenn ich zu mir selbst finde, finde ich zugleich auch zu Gott». Gott ein so mächtiges Wort. Will sie uns damit sagen Gott wohnt in uns? Aber was ist Gott überhaupt? Gibt es ihn, sie oder es überhaupt? Oder ist es einfach nur eine Suche? Ich blättere weiter, suche weiter.

«Viel Kälte ist unter den Menschen, weil wir nicht wagen, uns so herzlich zu geben wie wir sind.» Es macht den Anschein, als sei sie mit dem Leuchtstift zweimal über diese Zeile gestrichen. Scheint ihr wichtig gewesen zu sein. Und dann markiert sie plötzlich fast schon unerwartet und sehr heiter diese eine Stelle im Buch, wo der Autor von einem Aufkleber erzählt, den er an einem Fahrzeug vor sich im Stau entdeckt und der ihn zum Schmunzeln bringt: «Lächle und du fährst anders!» Und auch ich muss unweigerlich lächeln. Lächeln weil ich so viel Humor in diesem Buch nicht erwartet hätte.

Auf der nächsten Seite finde ich den zweitschönsten Satz? Kennen Sie ihn? Nein, dann verrate ich es Ihnen. Der zweitschönste Satz gemäss den Leuchtspuren von Ruth lautet: «Ich habe Zeit für dich!» Und ich denke sie hat Recht. Und sie fordert uns auf wieder «…wie die Kinder zu werden, staunenswert»

Dann treffe ich unverhofft auf Unendlichkeiten. Sätze, die ewig nachhallen werden. «Das ist deine Unendlichkeit, dass du jeden so lieben kannst, als gäbe es nur dieses eine Geschöpf Und «auf dich stosse ich, wenn ich meine letzte Tiefe erreiche

Gott leuchtet wieder heraus: «Wenn wir erst einmal versuchen, in allem Gott zu sehen, stellen wir fest, dass er gar nicht so weit weg ist, wie wir glauben.» Und auch die nächste Stelle scheint doppelt, wenn nicht gar dreifach markiert: «Wenn wir nur mit dem Herzen zu sehen vermöchten.» Und dann folgt: «Ja, er wohnt im Menschen» und «Der Himmel ist überall». Sind das die Antworten, obschon das Buch noch nicht zu Ende ist? Es ist noch nicht zu Ende, das können noch nicht alle Antworten auf meine Fragen sein.

Im nächsten Abschnitt darf auch die Liebe zu Wort kommen. Gott sei Dank, ich hätte sie vermisst. Und die Liebe sagt: «Ich will dass du bist!» und «Liebe kann nicht zwingen, sonst hört sie auf Liebe zu sein.» Soll das bedeuten, dass wir niemanden zwingen können uns zu lieben? Aber das wissen wir doch. Oder verstehen wir es vielleicht falsch?

Und dann hat Ruth folgende Stelle markiert, sozusagen mitten aus dem Satz gerissen: «…der Durchgang ist zum eigentlichen Leben» Was will sie damit sagen? Ist dieses irdische Leben hier nur ein Durchgang? War ihr aus-dem-Leben-gerissen-werden einfach nur das Ende eines Satzes?

Und dann fordert sie mich unverblümt auf: «Ich darf den Mut zur Unvollkommenheit haben», denn «…die Demaskierung vor mir selbst ist der Anfang der Wahrhaftigkeit» «Der Mensch ist aus den Fugen geraten.» Er ist «Auf der Flucht vor sich selbst, um nicht zum Nachdenken zu kommen.» Flüchten wir wirklich vor uns selbst? Vor Gott oder der Liebe? Oder flüchten wir vor dem Tod, der doch nur ein Durchgang ist? Wie soll ich das alles bloss verstehen? Jetzt habe ich mehr Fragen als Antworten.

Leuchtenden Gedankenspuren von Ruth sausen durch die Unendlichkeiten in mir und suchen sich ihren Platz in meinem Herzen. Ich muss nicht alles verstehen. Ich glaube auch Ruth hat zu Lebzeiten nicht alles verstanden. Weil es schwer ist als Mensch alles immer verstehen zu können. Wir dürfen schliesslich unvollkommen sein. Vielleicht soll man als Mensch Fragen stellen, viele Fragen, wie wir es als Kind getan haben. Fragen an das Leben, an Gott, die Liebe, den Tod, die Unendlichkeit. Und wir dürfen davon ausgehen, dass unsere Fragen eines Tages beantwortet werden. Vielleicht nicht zu Lebzeiten, aber ich bin mir sicher, dass sie eines Tages alle beantwortet werden. Ja, ich glaube Ruth’s Fragen sind jetzt alle beantwortet. Ihre Suche hat aufgehört. Sie weiss dass wir unsere Antworten auch finden werden und hat uns bis dahin Spuren hinterlassen in einem kleinen Buch, vielleicht mit der Aufforderung, dass auch wir Spuren hinterlassen sollen. Ich persönlich denke da an Aufkleber, die wir in der ganzen Welt wie Brotkrumen verteilen sollten, damit wir den Weg zu uns selbst immer wieder finden können. Aufkleber mit dem Spruch:

«Lächle und du lebst anders!»

(*Mit Textpassagen aus dem Buch «Mehr Leben als du ahnst» von Ferdinand Krenzer)

10.09.2020

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